Die bleibende Suche nach dem, was uns hält
Solo-Theater ABGERUNGEN und Ausstellung MEHR LEBEN ENTDECKEN an der Freien Waldorfschule in Trier – von Dr. Samuel Acloque
(Lehrer für katholische Religionslehre, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier)
Seit einigen Jahren ist es zur Tradition geworden, den Philosophie- und Religionsunterricht für die Klassen 11 und 12, die an der Trierer Waldorfschule alleine in diesen Fächern klassenübergreifend unterrichtet werden, als Block-Veranstaltung durchzuführen.
Leben im Geist und in der Nachfolge Jesu …
Im nun zuende gehenden Schuljahr 2023/24 lautete das übergeordnete Jahresthema des Katholischen Religionsunterrichts: „Leben im Geist und in der Nachfolge Jesu“. Während im ersten Halbjahr Grundzüge der Christusnachfolge aus biblischer, kirchenhistorischer und spiritueller Sicht das erforderliche Fundament legten, das erst eine vertiefte Auseinandersetzung und Reflexion mit eigenen Nachfolge-Vorstellungen ermöglicht, stand das zweite Halbjahr ganz im Zeichen von Richard Henkes.
… am Beispiel Richard Henkes
Dabei wurde die Teilnahme an einer Fortbildung, die die Schulabteilungen aus Trier und Koblenz in Vallendar zum Thema „Richard Henkes – Martyrer der Nächstenliebe“ veranstalteten, und die von Prof. em. Pater Hubert Lenz SAC inhaltlich mit Leben gefüllt wurde, gleichsam zur Initialzündung für die Fortsetzung des oben genannten Jahresthemas. Das Zeugnis des mir bis dato völlig unbekannten Pallottiner-Paters Richard Henkes sollte seit jener Veranstaltung vom November 2023 an den weiteren Verlauf des Schuljahres maßgebend bestimmen.
Neben der Kurzbiographie über Henkes aus dem Martyrologium des 20. Jahrhunderts diente die Graphic Documentary „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet“ als methodisch-didaktisches Rüstzeug, um diesem eindrucksvollen Zeugnis für Christus auf die Spur zu kommen. Zwar stand die Person Richard Henkes nicht im Fokus des Philosophie-Unterrichts, der geschätzte Kollege Felix Schuh zeigte sich jedoch offen für einen Brückenschlag zwischen beiden Fächern. Schließlich ist das philosophisch-ethische Thema, das die Kantsche Frage „Was soll ich tun? – Wege zu einem guten (Zusammen-)Leben“ aufgegriffen hat, bestens geeignet, um am Beispiel des Richard Henkes der Suche nach der persönlichen Motivation, das Leben (zwischen-)menschlich zu gestalten, nachgehen zu können.
… gehört „zu den berührendsten Momenten, die ich in der Arbeit mit Jugendlichen je erfahren durfte“
So bekamen insgesamt knapp 60 Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, über die Unterrichts-Blöcke (jeweils 2 Samstage pro Halbjahr) hinaus, am 06. Februar an der ergreifenden Theater-Darbietung, die das innere Ringen des Richard Henkes während seines KZ-Aufenthalts in den Blick rückte, zu partizipieren. Die Reaktion der Anwesenden auf das Solo-Theaterstück ABGERUNGEN zählt für mich als Religionslehrer aller Klassenstufen (2-13) zu den berührendsten Momenten, die ich in der Arbeit mit Jugendlichen je erfahren durfte: Stilles Verweilen. Kein hektischer Aufbruch. Keine störenden oder ablenkenden Gebärden. Nur Stille.
In einer gemeinsamen Nachbetrachtung des Theaterstücks zu Beginn des 2. Halbjahres wurde einmal mehr deutlich, dass es nicht zwingend einer religiösen Sozialisation oder einer christlich-katholischen Identität bedarf, um die Authentizität dieses Lebenszeugnisses nachzuempfinden und von daher auch Schlüsse für das eigene Leben zu ziehen. Fragen, die Henkes Leben tangiert haben, erfahren die Schülerinnen und Schüler zwar heute nicht zwangsläufig in gleicher Intensität, doch stellen gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre jede(n) von uns vor die Herausforderung, engagiert und couragiert für Überzeugungen einzutreten, die keineswegs selbstverständlich sind und mitnichten von allen in gleichem Maße geteilt werden. Haltung zu zeigen setzt voraus, Haltung zu haben.
Die interaktive Ausstellung: krönender Abschluß
So darf die Ausstellung MEHR LEBEN ENTDECKEN, die vom 13.-17.05.24 an unserer Schule zu bestaunen war, als krönender Abschluss einer Unterrichtseinheit gesehen werden, die viele junge Menschen animiert hat, über die Leidenschaften, Herzenswünsche, Ziele, Sehnsüchte und letztlich auch Werte der eigenen Biographie ins Gespräch zu kommen.
Dass im Leben von Richard Henkes gerade auch Brüche als elementare Wegweiser erfasst werden können, war mit entscheidend dafür gewesen, dass die Ausstellung auch für diejenigen anschlussfähig blieb, die selbst mit Kirche und christlichem Glauben fremdeln. Diejenigen aber, die auch im (groß-)elterlichen Haus erfahren, was es heißt in der Nachfolge Jesu die Welt mit anderen Augen zu betrachten, fühlten sich gleichsam bestärkt durch viele Elemente der Ausstellung, die zur interaktiven Auseinandersetzung einluden. Dass auch Schülerinnen und Schüler der Unter- und Mittelstufe ihre Anknüpfungspunkte spielerisch in den Pausen entdeckten, unterstreicht die Bereicherung unseres Schulalltags in dieser Ausstellungswoche.
Glaube und Zweifel – das Hakenkreuz und die geöffneten Arme des Gekreuzigten
… das sind die beiden Seiten der einen Medaille. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., hat das in einem seiner Frühwerke bereits herausgestellt: „…Es ist die Grundgestalt menschlichen Geschicks, nur in dieser unbeendbaren Rivalität von Zweifel und Glaube, von Anfechtung und Gewissheit die Endgültigkeit seines Daseins finden zu dürfen…“ Wie sehr wird diese Einsicht doch an Richard Henkes beispielhaft konkret! In den Bedrängnissen seines Lebens bleibt der Zweifel, der Zweifel an der Existenz Gottes, der Zweifel am Gutsein des Menschen. Und dennoch setzt sich der Glaube, das Vertrauen auf das Getragen-Sein, als lebensbestärkende Sicht auf die Welt im Leben von Henkes durch. Seinen Halt findet er letztlich in der Einsicht des großen Völkerapostels Paulus, der die Botschaft des Evangeliums nicht treffender formulieren könnte: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,22-24).
Henkes unerschrockenes Auftreten gegen die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten und sein bedingungsloser Einsatz für die Notleidenden seiner Zeit sind ohne Verwurzelung im Glauben undenkbar. Nur von hieraus lernt er, im Geist und in der Nachfolge Jesu handlungsfähig zu bleiben. Der Glaube blendet nicht seine Sicht auf die bitteren Realitäten seiner Zeit aus; vielmehr lernt er, sich in den Bedrängnissen als treuer Freund der Menschen zu erweisen. Schließlich weiß der „Opferpriester Henkes“ sich von dem gesandt, der „Fleisch und Blut angenommen [hat], um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel, und um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebr 2,14f.).
In der Hoffnung, dass Henkes auch heute ansteckend wirkt
Die religionspädagogische Einsicht, dass Glaube immer unverfügbar ist und bleibt, sowie die nüchterne Feststellung, dass der Glaube in unserer scheinbar so aufgeklärten Zeit keine große gesellschaftliche Lobby erfährt, lassen Zweifel aufkommen, ob Henkes mit seinem Christus-Bekenntnis auf die Schülerschaft der Trierer Waldorfschule nachhaltig zu wirken vermag. Eines aber ist vielen gewiss: Kreuzträger wie Henkes sind ein Segen für andere, früher wie heute.
Für meine Arbeit bleibt die Erkenntnis, dass den Entwicklungen unserer Tage, in der nicht nur der gesamtgesellschaftliche Ton rauer wird, sondern auch politische Strömungen aller Couleur der „guten alten Zeit“ hinterherhächeln, das Zeugnis derer entgegengestellt werden muss, die das Evangelium in seiner ganzen existentiellen Relevanz vorleb(t)en. Ihre Stimme wieder hörbar zu machen, bleibt theologischer und insbesondere religionspädagogischer Auftrag. Es bleibt die Hoffnung, dass Henkes u. a. auch heute noch „ansteckend“ sind. Die unzähligen Blutzeugen dem Vergessen zu entreißen, bleibt verpflichtend, auch in der Waldorfschule Trier
Text und Bilder (soweit nicht anders angegeben): Dr. Samuel Acloque,
(Lehrer für Katholische Religionslehre an der Freien Waldorfschule Trier; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier
Ehrenamtliche Tätigkeit sowie Referententätigkeit für die Katholische Erwachsenenbildung Konz/Trier; zurzeit (SoSe 2024) Lehrauftrag für Religionspädagogik an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT))
Bild Henkes: WeG-Initiative